Ge-9 Obdachlosigkeit bekämpfen, nicht Obdachlose!

Status:
Annahme

Rund 48 000 Menschen in Deutschland leben auf der Straße, insgesamt sind rund 650 000 Menschen wohnungslos. Die Gründe für Wohnungslosigkeit sind vielfältig, aber zu sagen: „Niemand muss in Deutschland auf der Straße leben“ ist naiv, gefährlich und nahezu menschenverachtend. An der Bekämpfung von Wohnungslosigkeit zeigt sich, wie gut der Sozialstaat wirklich ist.  In den letzten Jahren ist ein beängstigender Trend festzustellen. Immer mehr Kommunen und Firmen versuchen durch eine Reihe „kreativer“ Maßnahmen, Obdachlose aus dem öffentlichen Straßenbild zu vertreiben und ihnen den Aufenthalt an öffentlichen Orten unmöglich zumachen. Riesige Steine werden unter Brücken abgelegt, U-Bahnhöfe mit klassischer Musik beschallt, Sitzbänke mit mehreren Lehnen ausgestattet und spitze Zacken vor Schaufenstern installiert. Diese Praxis verurteilen wir aufs Schärfste! Sie soll Menschen, die als unangenehm wahrgenommen werden, vertreiben. Man will „das Problem“ nicht vor Augen haben, kümmert sich aber auch nicht um ihr Schicksal. Ganz nach dem Motto: Aus den Augen, aus dem Sinn.  

Wir fordern daher ein sofortiges Ende dieser Praktiken, die gegen Obdachlose im öffentlichen Raum gerichtet sind. Insbesondere fordern wir alle SPD-Fraktionen in den Kommunen auf, gegen diese Maßnahmen vorzugehen und sich für ihr Ende einzusetzen! Stattdessen brauchen wir einen neuen Ansatz in der Bekämpfung von Obdachlosigkeit. Der Fokus auf die „Verantwortung des Einzelnen“, der sich doch nur kümmern und bemühen müsse, ist vollkommen gescheitert. Obdachlose befinden sich in aller Regel in einem Teufelskreis: ohne Wohnung kein Job, ohne Job keine Wohnung. Wir brauchen radikale neue Lösungen. Ein Ansatz könnte das „Housing first“-Konzept nach finnischem Vorbild sein: Obdachlose bekommen ohne Bedingungen eine eigene Wohnung vom Staat, um dann nach und nach wieder in ein „normales“ Leben zurückzukehren. Die Y-Foundation, eine NGO aus Finnland, erklärt das Prinzip so: „Wir haben das Prinzip umgedreht: Normalerweise müssen Obdachlose erst ihr Leben auf die Reihe kriegen, um wieder eine eigene Wohnung zu bekommen. Wir machen das andersher um. Wir geben ihnen eine dauerhafte Wohnung, damit sie ihr übriges Leben wieder in den Griff kriegen können. Seit 2008 gibt es das Housing-First-Programm in den zehn größten Städten in Finnland. Wir sprechen Obdachlose auf der Straße an, in den Heimen, bei Treffen mit Sozialarbeitern.“¹

Finnland ist mit diesem Ansatz überaus erfolgreich. Die Straßenobdachlosigkeit konnte effektiv verringert werden und am Ende ist es für den Staat sogar günstiger, als sich um viele Obdachlose zu kümmern. Wir fordern daher, in der Bekämpfung der Obdachlosigkeit in Deutschland neue Wege zu gehen. 

Statt den Einzelnen aus dem öffentlichen Raum zu vertreiben, muss der Staat Geld in die Hand nehmen, um wirklich  etwas für die Menschen auf der Straße zu tun. Das wäre dann ein wirklich guter Sozialstaat. 

 

¹https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2018-03/finnland-soziale-gerechtigkeit-grundwohnen-juha-kaakineninterview/komplettansicht 

Empfehlung der Antragskommission:
Annahme in der Fassung der AK
Version der Antragskommission:

Zur Bekämpfung der Wohnungslosigkeit in Deutschland fordern wir:

  • Alle Maßnahmen, die sich gegen Obdachlose im öffentlichen Raum richten sind zu beenden. Insbesondere fordern wir alle SPD-Fraktionen in den Kommunen auf, gegen diese Maßnahmen vorzugehen und sich für ihr Ende einzusetzen.
  • Das „Housing-First“ (ein Ansatz aus der US-amerikanischen Sozialpolitik zum Umgang mit Obdachlosigkeit) soll deutlich stärker als bisher zur Bekämpfung der Obdachlosigkeit genutzt werden.
  • Für „Housing-First-Programme“ sind entsprechende finanzielle Mittel bereitzustellen.

 

Adressat:

Beschluss und Original-Antragstext als Material für die Arbeit der SPD-Fraktionen

 

Erläuterung:

Housing-First: „Die Grundidee beruht auf der Annahme, dass Wohnen Menschenrecht ist. Eine eigene Wohnung dient als Schutzraum und ist die Basis für eine erfolgreiche Lebensbewältigung. Housing First geht davon aus, dass sich komplexe Problemlagen und besondere Lebenssituationen nur lösen lassen, wenn dieses Grundbedürfnis gesichert ist. Daher steht die Wohnraumversorgung ganz am Anfang und ist nicht an das Unterstützungsangebot gebunden. Der vermittelte Wohnraum dient als Basis für eine Regeneration der Selbsthilfekräfte und eine Aktivierung der vorhandenen Ressourcen.“

(Quelle: https://housingfirstberlin.de/projekt/, abgerufen 17.9.2021)