Die Militärdiktatur und ihre Folgen
1970 wurde mit Salvador Allende, der für das Wähler*innenbündnis der Unidad Popular antrat, erstmals ein sozialistischer Präsident gewählt. Allende brach mit der konservativen Politik seiner Vorgängerregierungen und setzte vor allem durch Lohnerhöhungen, Vergesellschaftungen und Enteignungen auf Umverteilung.
Außenpolitisch hat sich die Chilenische Regierung schnell mit den USA zerworfen, die eine sozialistische Regierung auf dem südamerikanischen Kontinent sehr kritisch sahen. In der Folge führte die USA eine Intervention durch, in der der Auslandsgeheimdienst CIA die linke Regierung Allendes destabilisierte. Die US- Intervention schuf die Voraussetzung für den Militärputsch am 11. September 1973, der schlussendlich in der Militärdiktatur von Pinochet mündete, die in den folgenden 17 Jahren die Chilen*innen systematisch verfolgte und folterte. Mehrere 10.000 Menschen wurden politisch gefangen genommen, über 2.000 wurden ermordet und von über 1.000 Menschen fehlt bis heute jede Spur.
Die von den USA unterstützte Militärregierung Pinochets führte 1980 eine neue, nicht demokratisch legitimierte Verfassung ein, die eine neoliberale, marktradikale Handschrift trägt. Die Verfassung von 1980 schützt vor allem die Privatwirtschaft und das Privateigentum vor staatlichem Handeln. Seit jeher wird der chilenische Staat als subsidiäres System festgeschrieben. Das Subsidiaritätsprinzip bedeutet, der Markt soll alles regeln und der Staat greift nur im äußersten Notfall ein. Ein System, von dem wir Sozialdemokrat*innen ganz genau wissen, wohin es führt: die Armen werden immer ärmer und die Reichen immer reicher! Zwar endete die Militärdiktatur am 11. März 1990, dennoch besitzt die neoliberale Verfassung aus der Zeit der Militärdiktatur in Chile bis heute Gültigkeit mit verheerenden Folgen für die arbeitende Klasse.
Aus einer volkswirtschaftlichen Perspektive hat sich das Brutto-Inlandsprodukt Chiles in der Zeit nach der Diktatur bis heute gut entwickelt und Chile gilt als wirtschaftlich aufstrebendstes Land Südamerikas. Doch obwohl das BIP wächst und der Wohlstand nominell wächst, bekommt der Großteil der Chilen*innen nichts davon mit. Die Lücke zwischen Arm und Reich ist in Chile so groß, wie in kaum einem anderen Land der OECD. Die oberen 10% Chiles besitzen in etwa zwei Drittel des gesamten Vermögens. Die chilenische Gesellschaft leidet unter Armut, massiver sozialer Ungleichheit und einer enorm ungerechtem Vermögens- und Einkommensverteilung.
„Es geht nicht um 30 Pesos, es geht um 30 Jahre“
Die chilenische Metro kündigte im Oktober 2019 eine Fahrpreiserhöhung um 30 chilenische Pesos an. Damit löste sie damit die größten Proteste der jüngsten chilenischen Geschichte aus. Die Preiserhöhung von umgerechnet ca. 0,04 € war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte und eine soziale Bewegung entfachte, die einen bisher nie dagewesenen politischen Handlungs- und Veränderungsdruck erzeugte. Tausende Chilen*innen schlossen sich zu einer Protestbewegung zusammen und protestierten gegen die bestehenden Verhältnisse. Die Wut richtete sich gegen die hohen Lebenshaltungskosten, das ungerechte Bildungs- und Gesundheitssystem, sowie die private Altersvorsorge.
Die chilenische Altersvorsorge auf Basis einer Rentenfondsverwaltung und wird zu 100% von Arbeitnehmer*innen investiert. Da dieses System auf den Kauf von Aktien angelegt ist, verlor die Rentenfondsverwaltung während der Finanzkrise 2008 rund 40% der gesparten Renten der Einzahler*innen. Ein Rentensystem, das nach Gewinnmaximierung der Unternehmen strebt, führt unwiderruflich zu Verlusten bei den einzahlenden Arbeitnehmer*innen. Mit diesem System fördert der chilenische Staat eine Umverteilung der Einkommen der arbeitenden Bevölkerungsschicht zu den finanzstarken Privatunternehmen und ihren Anteilseignern.
In Chile herrscht ein verfassungsrechtlich gestützter, jedoch nicht demokratisch legitimierter Neoliberalismus und zieht sich durch alle Facetten des alltäglichen Lebens. Gute Bildung, sowie ausreichende medizinische und gesundheitliche Versorgung sind vor allem den wenigen einkommensstarken Chilen*innen vorbehalten. Der Zugang zu natürlichen Ressourcen – teilweise sogar zu Wasser! – ist privatisiert. Die Menschen in Chile sind vollkommen zurecht wütend auf dieses marktradikale, kapitalistische System. Was mit Widerstand gegen einen erhöhten Fahrpreis begann, entwickelte sich schnell zur Systemfrage und mündete in der zentralen Forderung der Protestbewegung: Die Verfassung aus der Zeit der Militärdiktatur muss abgeschafft werden, um sie durch eine neue, demokratisch legitimierte Verfassung zu ersetzen.
Als SPD, die Antifaschismus und demokratischen Sozialismus zu ihren Grundwerten zählen, stehen wir an der Seite der chilenischen Protestbewegung. Wir unterstützen die chilenischen Demonstrant*innen im Streben nach einer neuen Verfassung, die das neoliberale System hinter sich lässt und den Weg für ein Sozialsystem, sowie einen aktiven chilenischen Staat freimacht!
Des Weiteren verurteilen wir die Polizei- und Militärgewalt, die unseren chilenischen Genoss*innen widerfährt! Die vielen Toten, die es aufgrund von eskalierenden Einsätzen der Staatsmacht gibt sind nicht hinnehmbar und müssen sofort enden!
Zu wenig Land und zu viel Polizei
Chile ist ein Land, das viele indigene Völker und Nationen beheimatet. Das größte indigene Volk sind die Mapuche, die im Süden Chiles und Argentinien leben und eine Vielzahl regionaler Identitäten besitzen. Die Geschichte der indigenen Völker und Nationen in Südamerika ist von europäischer Kolonisation, Ausbeutung, Unterdrückung und politischer Verfolgung geprägt. Ab dem 16. Jahrhundert litten sie unter den Kolonialverbrechen der Spanier*innen. Sie konnten jedoch erwirken, als eigenständiges Volk anerkannt zu werden. Der im 19. Jahrhundert gestartete Prozess, der zynischerweise „Befriedung“ genannt wurde, hatte zur Folge, dass 1883 das Mapuche-Gebiet gewaltsam an den chilenischen Staat angegliedert und unterworfen wurde. Die Mapuche mussten ihre Siedlungsgebiete verlassen und sich in kleine Reservate zurückziehen. Widerstände liefen in den olgenden Jahrzehnte ins Leere und erzielten keine politischen Konsequenzen.
Nach Jahren der Vertreibung, Ausgrenzung und Verfolgung sorgte 1970 der sozialistische Präsident Allende für Hoffnung, da er massiv die Enteignung landwirtschaftlicher Betriebe vorantrieb und das gewonnene Land an die Ureinwohner*innen zurückgab. Diese Hoffnung endete jedoch mit dem Putsch Pinochets und der Militärdiktatur. Seitdem leiden die Mapuche unter schweren Repressalien, die sich auch mit dem Ende der Diktatur 1990 nicht endete, da das neoliberale Wirtschaftssystem Pinochets, das auf der Ausbeutung von Natur und dem Export von Rohstoffen basiert, von den Nachfolgeregierungen fortgeführt wurde – zu Lasten und zum Leid der indigenen Völker.
Heutzutage machen Mapuche in etwa 10% der Bevölkerung aus, sind jedoch gesellschaftlich stark unterrepräsentiert und leben überwiegend in Armut. Die Landrechtskonflikte zwischen dem chilenischen Staat und der indigenen Bewegung halten weiterhin an und fordern regelmäßig Todesopfer. Die Mapuche sind auch deshalb strukturell benachteiligt, weil die chilenische Verfassung ihnen keine ethnisch- kulturelle Sonderstellung einräumt – die sie in Anbetracht der leidvollen Geschichte de facto hat.
In der Folge des Jahrzehnte währenden Konflikts sind viele indigenen Menschen in die Städte geflüchtet und haben ihre Heimat verlassen. Dort leiden sie unter struktureller Benachteiligung und starker Armut. Rassismus gegen die indigene Bevölkerung ist bis heute stark in der chilenischen Gesellschaft verwurzelt. Menschenrechtsaktivist*innen prangern zurecht an, dass den Interessen der Mapuche nach wie vor zu wenig Raum gegeben wird.
Als internationalistische, antirassistische Partei stehen wir an der Seite der indigenen Bevölkerung in Chile. Wir schließen uns der Forderung nach Landrückgabe an die Mapuche und andere indigene Völker an. Der chilenische Staat muss den Einsatz militärischer Waffen sofort beenden!
Die Weg zu einer neuen Verfassung
Nach einem Jahr teilweise eskalierender Proteste, gab die chilenische Regierung der Hauptforderung nach und ließ eine Volksabstimmung zur Frage zu, ob das Land den Prozess zur Einführung einer neuen Verfassung anstoßen solle. Per Plebiszit stimmte eine überwältigenden 78%-Mehrheit der Chilen*innen im Oktober 2020 dafür und bereiteten so den Weg für eine neue, demokratisch legitimierte Verfassung, die das Erbe des Diktators Pinochets überwinden soll.
Um den Verfassungsentwurf vorzubereiteten, wurde die verfassungsgebende Versammlung, die Convención Constitutional eingerichtet, die sich um die großen Leitfragen zur Konstitution Chiles kümmern sollte. In der darauffolgenden, freien Wahl wurden im Mai 2021 überwiegend linke und parteiunabhängige Vertreterinnen und Vertreter in ebenjene verfassungsgebende Versammlung gewählt. Zur Präsidentin und somit an die Spitze des Gremiums wurde Elisa Loncón eine Vertreterin der Mapuche gewählt. Die Republik durchlebt eine enorm demokratische Entwicklung, die wir Jusos unterstützen müssen. Eine Entwicklung, die noch vor wenigen Monaten undenkbar schien und die verdeutlicht, welche ungeheure Kraft soziale Bewegungen bahnbrechen können.
Dieser Wandel wirkte sich auch auf die Präsidentschaftswahl im Dezember 2021 aus. In dem Duell um das höchste Regierungsamt kämpfte mit Gabriel Boric ein linker Kandidat gegen den stramm rechten José Antonio Kast, der sich in der ideologisch in der Nähe Pinochets verortet und vor allem ankündigt, gegen den neuen Verfassungsentwurf zu arbeiten und die Sonderechte im Falle eines verhängten Ausnahmezustandes, wie es vor allem in den Mapuche-Gebieten der Fall war und ist, auszuweiten. Für die Bürgerreche, aber vor allem für Minderheiten und progressive Kräfte im Land wäre ein Präsident Kast der worst case, weshalb sich ein übergeordnetes Lager aus der Arbeiter*innenbewegung hinter Boric stellte.
Mit 56% und somit deutlicher als prognostiziert setzte sich Gabriel Boric im Dezember durch und ist seit März 2022 gewählter Präsident Chiles. Dabei lag es vor allem an der Wahlbeteiligung junger und weiblicher Menschen, die für den progressiven Kandidaten stimmten. Männer und Personen mit einem Alter von über 50 wählten mehrheitlich für Kast. Boric ist mit 35 Jahren der jüngste Präsident in der Geschichte Chiles und seine Vorhaben sind aus linken, fortschrittlichen Blickwinkeln und vor allem aus sozialdemokratischer Perspektive unterstützenswert. Boric strebt nach einem kostenlosen Bildungssystem und einer sozialen Marktwirtschaft nach europäischen Modell. Auch wenn damit noch keine sozialistischen Zustände herrschten, ist die Richtung unter Betrachtung der Ausgangslage eine begrüßenswerte. Seine weiteren Vorhaben wie höhere Besteuerung für Unternehmen und hohe Einkommen, ein staatliches Rentensystem, die Stärkung öffentlichen Gesundheits- und Bildungssystems, sowie von Kunst und Kultur stehen allerdings unter schwierigen Bedingungen: denn im Dezember wurde zeitgleich ein neues Parlament gewählt, in dem Borics Bündnis keine Mehrheit erlangte und auf Zusammenarbeit mit den konservativen Kräften angewiesen ist. Nichtsdestotrotz ist an der Spitze des Chilenischen Staates nun ein Mensch, der den verfassungsgebenden Prozess unterstützt und nicht gegen ihn arbeitet.
Mit Boric‘ Wahlsieg wurde das gesellschaftliche Katastrophenszenario verhindert und sowohl die politischen Ziele, als auch die Biographie eines 35 Jährigen Präsidenten, der der Student*innenbewegung Chiles entspringt, sind zunächst vielversprechend. Dennoch müssen wir Boric‘ Einstellungen zum Judentum und zu Israel – dem Schutzstaat jüdischen Lebens – mit aller Deutlichkeit kritisieren. Boric unterstützt den Boykott israelischer Waren und Dienstleistungen und bezichtigt Israel eines Völkermords an den Palästinenser*innen. Das ist lupenreiner Antisemitismus und muss glasklar als solcher benannt werden. Diese Aussagen des Präsidenten sind nicht hinnehmbar – ohne Wenn und Aber! Sie beunruhigen viele der rund 18.000 chilenischen Jüdinnen und Juden und lässt eine antiisraelische und antijüdische, politische Ausrichtung Chiles befürchten.
Ein verfassungsrechtlicher Leuchtturm
Die verfassungsgebende Versammlung präsentierte einen Vorschlag, der zur Abstimmung im September 2022 erneut zur Volksabstimmung freigegeben wurde. Dieser Entwurf steht der alten Verfassung diametral entgegen und trägt eine klar feministische und sozialistische Handschrift. Chile solle künftig nicht mehr verfassungsmäßig als subsidiäres, neoliberales System, sondern als Sozialstaat charakterisiert sein:
- Sozialstaat: Der Staat hat die Aufgabe eine Sozialpolitik zu definieren, die auf den Prinzipien von Teilhabe, Solidarität und Universalität fußt. Des Weiteren soll ein umfassendes, öffentliches Sozialsystem geschaffen werden, das über Pflichtbeiträge von Arbeitnehmer*innen, Arbeitgeber*innen und aus sonstigen Staatseinnahmen finanziert werden. Das wäre eine Zeitenwende in der chilenischen Sozialpolitik, in der sich Arbeitgeber*innen bisher gar nicht an der sozialen Sicherung der Chilen*innen beteiligen müssen. Den Gewerkschaften soll hierbei ein Mitwirkungsrecht in der Ausgestaltung eingeräumt werden.
Des Weiteren sieht der Entwurf öffentliche Bildungseinrichtungen und ein umfassendes und ganzheitliches, öffentliches Pflege-, sowie Gesundheitssystem, als Grundpfeiler eines aktiven Sozialstaates vor. Auch in Bezug auf das Grundbedürfnis des Wohnens leitet sich aus dem Entwurf ein verfassungsrechtlicher Anspruch ab. Dem Staat wird hier die Rolle des aktiven Treibers gegeben, der den Wohnungsbau mithilfe einer Landesbank voranbringen soll.
- Arbeit & Wirtschaft: Pinochets Verfassung beschränkt sich lediglich auf den Begriff der Arbeitsfreiheit. Damit verbunden ist die angebliche Freiheit des Arbeitnehmers oder der Arbeitnehmerin, einen Arbeitsort zu wählen, und die Freiheit der Unternehmen, zu wählen, wen sie einstellen. Das ist neoliberale Prosa in Reinkultur. Der neue Verfassungsentwurf sieht ein individuelles Arbeitsrecht vor, wonach sich entlohnte Arbeit nach den Grundsätzen der International Labor Organisation (ILO) und somit an internationalen Maßstäben und Normen der UN richtet. Ein großer Wurf ist darüber hinaus die Einführung des Kollektivarbeitsrechtes, das das Recht auf Gewerkschaftsfreiheit in drei Dimensionen anerkennt: gewerkschaftliche Organisierung, Tarifverhandlungen und Streik. Das betriebliche Mitbestimmungsrecht soll demnach über Gewerkschaften ausgeübt werden.
Dazu beschreibt der neue Verfassungsentwurf eine Demokratisierung der Wirtschaft, indem öffentliche Güter wie beispielsweise Wasser oder Bodenschätze der öffentlichen Hand zurückgeführt werden.
- Feminismus: In dem Verfassungsentwurf wird mit rückständigen Rollenverständnissen aufgeräumt, indem es eine neue Anerkennung von Haus- und Carearbeit beinhaltet, die von einem Verständnis des sozialistischen Feminismus geprägt ist. Die Carearbeit wird als das betrachtet, was sie ist: eine für die Gesellschaft und deren Aufrechterhaltung unverzichtbare Arbeit. Diese Arbeit muss vom Staat durch ein öffentliches Sorge- und Pflegesystem gesellschaftlich getragen werden. Dies führt zu einer Verschiebung innerhalb der Gesellschaft, indem Carearbeit aus dem Privaten und Versteckten herausholt und sie gewissermaßen vergesellschaftet.
Die Verfassung soll Geschlechtervielfalt anerkennen und die Gleichstellung/- behandlung der Geschlechter sichern. Konkret bedeutet das in Bezug auf Parität, dass alle Ämter und in allen staatlichen Institutionen paritätisch besetzt werden sollen. Doch auch in Bezug auf reproduktive Rechte stellt der Entwurf einen wahren Leuchtturm in einer diesbezüglich sehr konservativ geprägten Region dar. Ein freiwilliger Schwangerschaftsabbruch soll verfassungsmäßig zugesichert werden.
- Plurinationalität und Interkulturalität: Die Existenz der in Chile lebenden Völker und Nationen, sowie die Ausübung ihrer individuellen und kollektiven Rechte wird anerkannt. Nicht nur die territoriale Integrität der Völker, sondern auch das Recht auf Autonomie und Selbstverwaltung soll anerkannt werden. Nicht nur soll in dem Verfassungsentwurf, die Sprache, Kultur und eigene Identität anerkannt werden. Der Entwurf geht sogar noch weiter, indem er die Förderung und Wertschätzung des Austausches zwischen den Völkern und Nationen vorsieht, die in gegenseitigem Respekt miteinander leben sollen. Der Staat soll als Wegbereiter für ebenjenen Dialog dienen.
Der 449 Artikel umfassende Verfassungsentwurf stand für eine echte Zeitenwende Chiles und sollte mit all den Ungerechtigkeiten brechen, die noch vorher konstituierend für den Staat waren. Er sollte einen Schlussstrich ziehen mit der Privatisierung von grundlegenden Menschheitsbedürfnissen wie Bildung, Gesundheit oder Wasser. Dieses Schriftstück war ein verfassungsrechtlicher Leuchtturm mit Strahlkraft weit über den südamerikanischen Kontinent hinaus. Die festgeschriebenen Schutzrechte sowohl für Menschen, die Diskriminierungen leiden wie FINTA, LGBTQ+ oder BIPoC, aber auch für Klima, Natur und Artenvielfalt sind in ihrer Deutlichkeit weltweit einzigartig.
Wir als SPD sind davon überzeugt, dass Deutschland diesem sozialistischen, feministischen und ökologischen Ansatz folgen muss!Es ist höchste Zeit, dass auch wir grundlegende Menschheitsprobleme wie die Klimakatastrophe, das Artensterben, Wohnungslosigkeit und Diskriminierung aufgrund des Geschlechts oder der sexuellen Identität endlich verfassungsrechtlich in all ihren Dimensionen erfassen!
¡La Lucha Sigue! – Der Kampf geht weiter!
Nach einem hitzigen Wahlkampf rund um die Voslksabstimmung wurde der Vorschlag mit zwei Dritteln eindeutig abgelehnt. Eine finanzstark aufgezogene Desinformationskampagne verzerrte die öffentliche Debatte, indem gut produzierte Fake News in der chilenischen Gesellschaft verfingen. Rechte Thinktanks und Organisationen streuten Falschaussagen über den Verfassungsentwurf, die die öffentliche Daseinsvorsorge diskreditiere, nationalistische Gefühle schürte und dabei gegen indigene Menschen hetzte. Die Widerlegung der Lügen kam schier nicht an gegen die ungeheure Flut an Desinformationen in sämtlichen medialen Kanälen.
Trotz der verlorenen Abstimmung blieb der Reformdruck in Chile hoch, denn das Land braucht immer noch eine neue Verfassung. In einem neuen Anlauf, für den Präsident Boric die Opposition unter dem rechtsextremen Kast einbeziehen musste, wird Chile einen deutlich institutionalisierteren Weg gehen. Drei Gremien, bestehend aus einem direkt gewählten Verfassungsrat, einer Expert*innenkommission und einem juristischen Komitee, sollen nun einen zweiten Verfassungsentwurf ausarbeiten. Die politische Rechte hat dafür gesorgt, dass es sehr restriktive Bedingungen gibt, die viele der guten Ansätze im ersten Anlauf zuwiderlaufen. So wird beispielsweise festgeschrieben, dass Chile ein Zentralstaat bleibt, was ein klarer Bruch mit den Interessen der Mapuche ist, die den Staat dezentralisierter organisieren möchten.
Die politische Rechte bleibt ihrem Handlungsmuster treu: sie setzt ihre gesamte Kraft ein, um notwendige Veränderungen und echten Fortschritt auszubremsen. Auch wenn der neue verfassungsgebende Prozess deutlich bewegungsferner ist als der alte, stehen wir solidarisch an der Seite der noch immer weiterkämpfenden Genoss*innen auf den Straßen Chiles. Wir sind überzeugt, dass gesellschaftlicher Fortschritt und Aufbruch möglich sind!
Aus dem chilenischen Kampf für eine freiere und feministischere Gesellschaft müssen wir unsere Lehren ziehen. Daher fordern wir:
- das Ende der Gewalt gegen die Mapuche und indigenen Völker. Die voranschreitende
Militarisierung des Konflikts muss sofort enden! - die deutsche und europäische Außenpolitik dazu auf, die Menschenrechtsverletzungen an den indigenen Völkern Chiles anzusprechen und entschlossen auf ein anderes Handeln zu hinzuwirken.
- die Anerkennung der Territorien der Mapuche und ihrer Landrechte.
- die Bundesregierung auf, die feministische Außenpolitik endlich konsequent zu leben und den verfassungsgebenden Prozess zu unterstützen.
dass der Impuls aus Chile aufnehmen und auch das Deutsche Grundgesetz einer kritischen Überprüfung unterziehen. Beispielsweise ist der Schutz sexueller Minderheiten in Artikel 3 (3) GG nicht explizit erwähnt. Es ist Zeit, diese und andere Lücken im Grundgesetz zu schließen.
Wir stehen solidarisch an der Seite der noch immer weiterkämpfenden Genoss*innen auf den Straßen Chiles. Wir sind überzeugt, dass gesellschaftlicher Fortschritt und Aufbruch möglich sind!
Aus dem chilenischen Kampf für eine freiere und feministischere Gesellschaft müssen wir unsere Lehren ziehen. Daher fordern wir:
- das Ende der Gewalt gegen die Mapuche und indigenen Völker. Die voranschreitende
Militarisierung des Konflikts muss sofort enden! - die deutsche und europäische Außenpolitik dazu auf, die Menschenrechtsverletzungen an den indigenen Völkern Chiles anzusprechen und entschlossen auf ein anderes Handeln zu hinzuwirken.
- die Anerkennung der Territorien der Mapuche und ihrer Landrechte.
- die Bundesregierung auf, die feministische Außenpolitik endlich konsequent zu leben und den verfassungsgebenden Prozess zu unterstützen.
Adressat:
SPD-Bundestagsfraktion
Die Militärdiktatur und ihre Folgen
1970 wurde mit Salvador Allende, der für das Wähler*innenbündnis der Unidad Popular antrat, erstmals ein sozialistischer Präsident gewählt. Allende brach mit der konservativen Politik seiner Vorgängerregierungen und setzte vor allem durch Lohnerhöhungen, Vergesellschaftungen und Enteignungen auf Umverteilung.
Außenpolitisch hat sich die Chilenische Regierung schnell mit den USA zerworfen, die eine sozialistische Regierung auf dem südamerikanischen Kontinent sehr kritisch sahen. In der Folge führte die USA eine Intervention durch, in der der Auslandsgeheimdienst CIA die linke Regierung Allendes destabilisierte. Die US- Intervention schuf die Voraussetzung für den Militärputsch am 11. September 1973, der schlussendlich in der Militärdiktatur von Pinochet mündete, die in den folgenden 17 Jahren die Chilen*innen systematisch verfolgte und folterte. Mehrere 10.000 Menschen wurden politisch gefangen genommen, über 2.000 wurden ermordet und von über 1.000 Menschen fehlt bis heute jede Spur.
Die von den USA unterstützte Militärregierung Pinochets führte 1980 eine neue, nicht demokratisch legitimierte Verfassung ein, die eine neoliberale, marktradikale Handschrift trägt. Die Verfassung von 1980 schützt vor allem die Privatwirtschaft und das Privateigentum vor staatlichem Handeln. Seit jeher wird der chilenische Staat als subsidiäres System festgeschrieben. Das Subsidiaritätsprinzip bedeutet, der Markt soll alles regeln und der Staat greift nur im äußersten Notfall ein. Ein System, von dem wir Sozialdemokrat*innen ganz genau wissen, wohin es führt: die Armen werden immer ärmer und die Reichen immer reicher! Zwar endete die Militärdiktatur am 11. März 1990, dennoch besitzt die neoliberale Verfassung aus der Zeit der Militärdiktatur in Chile bis heute Gültigkeit mit verheerenden Folgen für die arbeitende Klasse.
Aus einer volkswirtschaftlichen Perspektive hat sich das Brutto-Inlandsprodukt Chiles in der Zeit nach der Diktatur bis heute gut entwickelt und Chile gilt als wirtschaftlich aufstrebendstes Land Südamerikas. Doch obwohl das BIP wächst und der Wohlstand nominell wächst, bekommt der Großteil der Chilen*innen nichts davon mit. Die Lücke zwischen Arm und Reich ist in Chile so groß, wie in kaum einem anderen Land der OECD. Die oberen 10% Chiles besitzen in etwa zwei Drittel des gesamten Vermögens. Die chilenische Gesellschaft leidet unter Armut, massiver sozialer Ungleichheit und einer enorm ungerechtem Vermögens- und Einkommensverteilung.
„Es geht nicht um 30 Pesos, es geht um 30 Jahre“
Die chilenische Metro kündigte im Oktober 2019 eine Fahrpreiserhöhung um 30 chilenische Pesos an. Damit löste sie damit die größten Proteste der jüngsten chilenischen Geschichte aus. Die Preiserhöhung von umgerechnet ca. 0,04 € war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte und eine soziale Bewegung entfachte, die einen bisher nie dagewesenen politischen Handlungs- und Veränderungsdruck erzeugte. Tausende Chilen*innen schlossen sich zu einer Protestbewegung zusammen und protestierten gegen die bestehenden Verhältnisse. Die Wut richtete sich gegen die hohen Lebenshaltungskosten, das ungerechte Bildungs- und Gesundheitssystem, sowie die private Altersvorsorge.
Die chilenische Altersvorsorge auf Basis einer Rentenfondsverwaltung und wird zu 100% von Arbeitnehmer*innen investiert. Da dieses System auf den Kauf von Aktien angelegt ist, verlor die Rentenfondsverwaltung während der Finanzkrise 2008 rund 40% der gesparten Renten der Einzahler*innen. Ein Rentensystem, das nach Gewinnmaximierung der Unternehmen strebt, führt unwiderruflich zu Verlusten bei den einzahlenden Arbeitnehmer*innen. Mit diesem System fördert der chilenische Staat eine Umverteilung der Einkommen der arbeitenden Bevölkerungsschicht zu den finanzstarken Privatunternehmen und ihren Anteilseignern.
In Chile herrscht ein verfassungsrechtlich gestützter, jedoch nicht demokratisch legitimierter Neoliberalismus und zieht sich durch alle Facetten des alltäglichen Lebens. Gute Bildung, sowie ausreichende medizinische und gesundheitliche Versorgung sind vor allem den wenigen einkommensstarken Chilen*innen vorbehalten. Der Zugang zu natürlichen Ressourcen – teilweise sogar zu Wasser! – ist privatisiert. Die Menschen in Chile sind vollkommen zurecht wütend auf dieses marktradikale, kapitalistische System. Was mit Widerstand gegen einen erhöhten Fahrpreis begann, entwickelte sich schnell zur Systemfrage und mündete in der zentralen Forderung der Protestbewegung: Die Verfassung aus der Zeit der Militärdiktatur muss abgeschafft werden, um sie durch eine neue, demokratisch legitimierte Verfassung zu ersetzen.
Als SPD, die Antifaschismus und demokratischen Sozialismus zu ihren Grundwerten zählen, stehen wir an der Seite der chilenischen Protestbewegung. Wir unterstützen die chilenischen Demonstrant*innen im Streben nach einer neuen Verfassung, die das neoliberale System hinter sich lässt und den Weg für ein Sozialsystem, sowie einen aktiven chilenischen Staat freimacht!
Des Weiteren verurteilen wir die Polizei- und Militärgewalt, die unseren chilenischen Genoss*innen widerfährt! Die vielen Toten, die es aufgrund von eskalierenden Einsätzen der Staatsmacht gibt sind nicht hinnehmbar und müssen sofort enden!
Zu wenig Land und zu viel Polizei
Chile ist ein Land, das viele indigene Völker und Nationen beheimatet. Das größte indigene Volk sind die Mapuche, die im Süden Chiles und Argentinien leben und eine Vielzahl regionaler Identitäten besitzen. Die Geschichte der indigenen Völker und Nationen in Südamerika ist von europäischer Kolonisation, Ausbeutung, Unterdrückung und politischer Verfolgung geprägt. Ab dem 16. Jahrhundert litten sie unter den Kolonialverbrechen der Spanier*innen. Sie konnten jedoch erwirken, als eigenständiges Volk anerkannt zu werden. Der im 19. Jahrhundert gestartete Prozess, der zynischerweise „Befriedung“ genannt wurde, hatte zur Folge, dass 1883 das Mapuche-Gebiet gewaltsam an den chilenischen Staat angegliedert und unterworfen wurde. Die Mapuche mussten ihre Siedlungsgebiete verlassen und sich in kleine Reservate zurückziehen. Widerstände liefen in den olgenden Jahrzehnte ins Leere und erzielten keine politischen Konsequenzen.
Nach Jahren der Vertreibung, Ausgrenzung und Verfolgung sorgte 1970 der sozialistische Präsident Allende für Hoffnung, da er massiv die Enteignung landwirtschaftlicher Betriebe vorantrieb und das gewonnene Land an die Ureinwohner*innen zurückgab. Diese Hoffnung endete jedoch mit dem Putsch Pinochets und der Militärdiktatur. Seitdem leiden die Mapuche unter schweren Repressalien, die sich auch mit dem Ende der Diktatur 1990 nicht endete, da das neoliberale Wirtschaftssystem Pinochets, das auf der Ausbeutung von Natur und dem Export von Rohstoffen basiert, von den Nachfolgeregierungen fortgeführt wurde – zu Lasten und zum Leid der indigenen Völker.
Heutzutage machen Mapuche in etwa 10% der Bevölkerung aus, sind jedoch gesellschaftlich stark unterrepräsentiert und leben überwiegend in Armut. Die Landrechtskonflikte zwischen dem chilenischen Staat und der indigenen Bewegung halten weiterhin an und fordern regelmäßig Todesopfer. Die Mapuche sind auch deshalb strukturell benachteiligt, weil die chilenische Verfassung ihnen keine ethnisch- kulturelle Sonderstellung einräumt – die sie in Anbetracht der leidvollen Geschichte de facto hat.
In der Folge des Jahrzehnte währenden Konflikts sind viele indigenen Menschen in die Städte geflüchtet und haben ihre Heimat verlassen. Dort leiden sie unter struktureller Benachteiligung und starker Armut. Rassismus gegen die indigene Bevölkerung ist bis heute stark in der chilenischen Gesellschaft verwurzelt. Menschenrechtsaktivist*innen prangern zurecht an, dass den Interessen der Mapuche nach wie vor zu wenig Raum gegeben wird.
Als internationalistische, antirassistische Partei stehen wir an der Seite der indigenen Bevölkerung in Chile. Wir schließen uns der Forderung nach Landrückgabe an die Mapuche und andere indigene Völker an. Der chilenische Staat muss den Einsatz militärischer Waffen sofort beenden!
Die Weg zu einer neuen Verfassung
Nach einem Jahr teilweise eskalierender Proteste, gab die chilenische Regierung der Hauptforderung nach und ließ eine Volksabstimmung zur Frage zu, ob das Land den Prozess zur Einführung einer neuen Verfassung anstoßen solle. Per Plebiszit stimmte eine überwältigenden 78%-Mehrheit der Chilen*innen im Oktober 2020 dafür und bereiteten so den Weg für eine neue, demokratisch legitimierte Verfassung, die das Erbe des Diktators Pinochets überwinden soll.
Um den Verfassungsentwurf vorzubereiteten, wurde die verfassungsgebende Versammlung, die Convención Constitutional eingerichtet, die sich um die großen Leitfragen zur Konstitution Chiles kümmern sollte. In der darauffolgenden, freien Wahl wurden im Mai 2021 überwiegend linke und parteiunabhängige Vertreterinnen und Vertreter in ebenjene verfassungsgebende Versammlung gewählt. Zur Präsidentin und somit an die Spitze des Gremiums wurde Elisa Loncón eine Vertreterin der Mapuche gewählt. Die Republik durchlebt eine enorm demokratische Entwicklung, die wir Jusos unterstützen müssen. Eine Entwicklung, die noch vor wenigen Monaten undenkbar schien und die verdeutlicht, welche ungeheure Kraft soziale Bewegungen bahnbrechen können.
Dieser Wandel wirkte sich auch auf die Präsidentschaftswahl im Dezember 2021 aus. In dem Duell um das höchste Regierungsamt kämpfte mit Gabriel Boric ein linker Kandidat gegen den stramm rechten José Antonio Kast, der sich in der ideologisch in der Nähe Pinochets verortet und vor allem ankündigt, gegen den neuen Verfassungsentwurf zu arbeiten und die Sonderechte im Falle eines verhängten Ausnahmezustandes, wie es vor allem in den Mapuche-Gebieten der Fall war und ist, auszuweiten. Für die Bürgerreche, aber vor allem für Minderheiten und progressive Kräfte im Land wäre ein Präsident Kast der worst case, weshalb sich ein übergeordnetes Lager aus der Arbeiter*innenbewegung hinter Boric stellte.
Mit 56% und somit deutlicher als prognostiziert setzte sich Gabriel Boric im Dezember durch und ist seit März 2022 gewählter Präsident Chiles. Dabei lag es vor allem an der Wahlbeteiligung junger und weiblicher Menschen, die für den progressiven Kandidaten stimmten. Männer und Personen mit einem Alter von über 50 wählten mehrheitlich für Kast. Boric ist mit 35 Jahren der jüngste Präsident in der Geschichte Chiles und seine Vorhaben sind aus linken, fortschrittlichen Blickwinkeln und vor allem aus sozialdemokratischer Perspektive unterstützenswert. Boric strebt nach einem kostenlosen Bildungssystem und einer sozialen Marktwirtschaft nach europäischen Modell. Auch wenn damit noch keine sozialistischen Zustände herrschten, ist die Richtung unter Betrachtung der Ausgangslage eine begrüßenswerte. Seine weiteren Vorhaben wie höhere Besteuerung für Unternehmen und hohe Einkommen, ein staatliches Rentensystem, die Stärkung öffentlichen Gesundheits- und Bildungssystems, sowie von Kunst und Kultur stehen allerdings unter schwierigen Bedingungen: denn im Dezember wurde zeitgleich ein neues Parlament gewählt, in dem Borics Bündnis keine Mehrheit erlangte und auf Zusammenarbeit mit den konservativen Kräften angewiesen ist. Nichtsdestotrotz ist an der Spitze des Chilenischen Staates nun ein Mensch, der den verfassungsgebenden Prozess unterstützt und nicht gegen ihn arbeitet.
Mit Boric‘ Wahlsieg wurde das gesellschaftliche Katastrophenszenario verhindert und sowohl die politischen Ziele, als auch die Biographie eines 35 Jährigen Präsidenten, der der Student*innenbewegung Chiles entspringt, sind zunächst vielversprechend. Dennoch müssen wir Boric‘ Einstellungen zum Judentum und zu Israel – dem Schutzstaat jüdischen Lebens – mit aller Deutlichkeit kritisieren. Boric unterstützt den Boykott israelischer Waren und Dienstleistungen und bezichtigt Israel eines Völkermords an den Palästinenser*innen. Das ist lupenreiner Antisemitismus und muss glasklar als solcher benannt werden. Diese Aussagen des Präsidenten sind nicht hinnehmbar – ohne Wenn und Aber! Sie beunruhigen viele der rund 18.000 chilenischen Jüdinnen und Juden und lässt eine antiisraelische und antijüdische, politische Ausrichtung Chiles befürchten.
Ein verfassungsrechtlicher Leuchtturm
Die verfassungsgebende Versammlung präsentierte einen Vorschlag, der zur Abstimmung im September 2022 erneut zur Volksabstimmung freigegeben wurde. Dieser Entwurf steht der alten Verfassung diametral entgegen und trägt eine klar feministische und sozialistische Handschrift. Chile solle künftig nicht mehr verfassungsmäßig als subsidiäres, neoliberales System, sondern als Sozialstaat charakterisiert sein:
- Sozialstaat: Der Staat hat die Aufgabe eine Sozialpolitik zu definieren, die auf den Prinzipien von Teilhabe, Solidarität und Universalität fußt. Des Weiteren soll ein umfassendes, öffentliches Sozialsystem geschaffen werden, das über Pflichtbeiträge von Arbeitnehmer*innen, Arbeitgeber*innen und aus sonstigen Staatseinnahmen finanziert werden. Das wäre eine Zeitenwende in der chilenischen Sozialpolitik, in der sich Arbeitgeber*innen bisher gar nicht an der sozialen Sicherung der Chilen*innen beteiligen müssen. Den Gewerkschaften soll hierbei ein Mitwirkungsrecht in der Ausgestaltung eingeräumt werden.
Des Weiteren sieht der Entwurf öffentliche Bildungseinrichtungen und ein umfassendes und ganzheitliches, öffentliches Pflege-, sowie Gesundheitssystem, als Grundpfeiler eines aktiven Sozialstaates vor. Auch in Bezug auf das Grundbedürfnis des Wohnens leitet sich aus dem Entwurf ein verfassungsrechtlicher Anspruch ab. Dem Staat wird hier die Rolle des aktiven Treibers gegeben, der den Wohnungsbau mithilfe einer Landesbank voranbringen soll.
- Arbeit & Wirtschaft: Pinochets Verfassung beschränkt sich lediglich auf den Begriff der Arbeitsfreiheit. Damit verbunden ist die angebliche Freiheit des Arbeitnehmers oder der Arbeitnehmerin, einen Arbeitsort zu wählen, und die Freiheit der Unternehmen, zu wählen, wen sie einstellen. Das ist neoliberale Prosa in Reinkultur. Der neue Verfassungsentwurf sieht ein individuelles Arbeitsrecht vor, wonach sich entlohnte Arbeit nach den Grundsätzen der International Labor Organisation (ILO) und somit an internationalen Maßstäben und Normen der UN richtet. Ein großer Wurf ist darüber hinaus die Einführung des Kollektivarbeitsrechtes, das das Recht auf Gewerkschaftsfreiheit in drei Dimensionen anerkennt: gewerkschaftliche Organisierung, Tarifverhandlungen und Streik. Das betriebliche Mitbestimmungsrecht soll demnach über Gewerkschaften ausgeübt werden.
Dazu beschreibt der neue Verfassungsentwurf eine Demokratisierung der Wirtschaft, indem öffentliche Güter wie beispielsweise Wasser oder Bodenschätze der öffentlichen Hand zurückgeführt werden.
- Feminismus: In dem Verfassungsentwurf wird mit rückständigen Rollenverständnissen aufgeräumt, indem es eine neue Anerkennung von Haus- und Carearbeit beinhaltet, die von einem Verständnis des sozialistischen Feminismus geprägt ist. Die Carearbeit wird als das betrachtet, was sie ist: eine für die Gesellschaft und deren Aufrechterhaltung unverzichtbare Arbeit. Diese Arbeit muss vom Staat durch ein öffentliches Sorge- und Pflegesystem gesellschaftlich getragen werden. Dies führt zu einer Verschiebung innerhalb der Gesellschaft, indem Carearbeit aus dem Privaten und Versteckten herausholt und sie gewissermaßen vergesellschaftet.
Die Verfassung soll Geschlechtervielfalt anerkennen und die Gleichstellung/- behandlung der Geschlechter sichern. Konkret bedeutet das in Bezug auf Parität, dass alle Ämter und in allen staatlichen Institutionen paritätisch besetzt werden sollen. Doch auch in Bezug auf reproduktive Rechte stellt der Entwurf einen wahren Leuchtturm in einer diesbezüglich sehr konservativ geprägten Region dar. Ein freiwilliger Schwangerschaftsabbruch soll verfassungsmäßig zugesichert werden.
- Plurinationalität und Interkulturalität: Die Existenz der in Chile lebenden Völker und Nationen, sowie die Ausübung ihrer individuellen und kollektiven Rechte wird anerkannt. Nicht nur die territoriale Integrität der Völker, sondern auch das Recht auf Autonomie und Selbstverwaltung soll anerkannt werden. Nicht nur soll in dem Verfassungsentwurf, die Sprache, Kultur und eigene Identität anerkannt werden. Der Entwurf geht sogar noch weiter, indem er die Förderung und Wertschätzung des Austausches zwischen den Völkern und Nationen vorsieht, die in gegenseitigem Respekt miteinander leben sollen. Der Staat soll als Wegbereiter für ebenjenen Dialog dienen.
Der 449 Artikel umfassende Verfassungsentwurf stand für eine echte Zeitenwende Chiles und sollte mit all den Ungerechtigkeiten brechen, die noch vorher konstituierend für den Staat waren. Er sollte einen Schlussstrich ziehen mit der Privatisierung von grundlegenden Menschheitsbedürfnissen wie Bildung, Gesundheit oder Wasser. Dieses Schriftstück war ein verfassungsrechtlicher Leuchtturm mit Strahlkraft weit über den südamerikanischen Kontinent hinaus. Die festgeschriebenen Schutzrechte sowohl für Menschen, die Diskriminierungen leiden wie FINTA, LGBTQ+ oder BIPoC, aber auch für Klima, Natur und Artenvielfalt sind in ihrer Deutlichkeit weltweit einzigartig.
Wir als SPD sind davon überzeugt, dass Deutschland diesem sozialistischen, feministischen und ökologischen Ansatz folgen muss!Es ist höchste Zeit, dass auch wir grundlegende Menschheitsprobleme wie die Klimakatastrophe, das Artensterben, Wohnungslosigkeit und Diskriminierung aufgrund des Geschlechts oder der sexuellen Identität endlich verfassungsrechtlich in all ihren Dimensionen erfassen!
¡La Lucha Sigue! – Der Kampf geht weiter!
Nach einem hitzigen Wahlkampf rund um die Voslksabstimmung wurde der Vorschlag mit zwei Dritteln eindeutig abgelehnt. Eine finanzstark aufgezogene Desinformationskampagne verzerrte die öffentliche Debatte, indem gut produzierte Fake News in der chilenischen Gesellschaft verfingen. Rechte Thinktanks und Organisationen streuten Falschaussagen über den Verfassungsentwurf, die die öffentliche Daseinsvorsorge diskreditiere, nationalistische Gefühle schürte und dabei gegen indigene Menschen hetzte. Die Widerlegung der Lügen kam schier nicht an gegen die ungeheure Flut an Desinformationen in sämtlichen medialen Kanälen.
Trotz der verlorenen Abstimmung blieb der Reformdruck in Chile hoch, denn das Land braucht immer noch eine neue Verfassung. In einem neuen Anlauf, für den Präsident Boric die Opposition unter dem rechtsextremen Kast einbeziehen musste, wird Chile einen deutlich institutionalisierteren Weg gehen. Drei Gremien, bestehend aus einem direkt gewählten Verfassungsrat, einer Expert*innenkommission und einem juristischen Komitee, sollen nun einen zweiten Verfassungsentwurf ausarbeiten. Die politische Rechte hat dafür gesorgt, dass es sehr restriktive Bedingungen gibt, die viele der guten Ansätze im ersten Anlauf zuwiderlaufen. So wird beispielsweise festgeschrieben, dass Chile ein Zentralstaat bleibt, was ein klarer Bruch mit den Interessen der Mapuche ist, die den Staat dezentralisierter organisieren möchten.
Die politische Rechte bleibt ihrem Handlungsmuster treu: sie setzt ihre gesamte Kraft ein, um notwendige Veränderungen und echten Fortschritt auszubremsen. Auch wenn der neue verfassungsgebende Prozess deutlich bewegungsferner ist als der alte, stehen wir solidarisch an der Seite der noch immer weiterkämpfenden Genoss*innen auf den Straßen Chiles. Wir sind überzeugt, dass gesellschaftlicher Fortschritt und Aufbruch möglich sind!
Aus dem chilenischen Kampf für eine freiere und feministischere Gesellschaft müssen wir unsere Lehren ziehen. Daher fordern wir:
- das Ende der Gewalt gegen die Mapuche und indigenen Völker. Die voranschreitende
Militarisierung des Konflikts muss sofort enden! - die deutsche und europäische Außenpolitik dazu auf, die Menschenrechtsverletzungen an den indigenen Völkern Chiles anzusprechen und entschlossen auf ein anderes Handeln zu hinzuwirken.
- die Anerkennung der Territorien der Mapuche und ihrer Landrechte.
- die Bundesregierung auf, die feministische Außenpolitik endlich konsequent zu leben und den verfassungsgebenden Prozess zu unterstützen.
dass der Impuls aus Chile aufnehmen und auch das Deutsche Grundgesetz einer kritischen Überprüfung unterziehen. Beispielsweise ist der Schutz sexueller Minderheiten in Artikel 3 (3) GG nicht explizit erwähnt. Es ist Zeit, diese und andere Lücken im Grundgesetz zu schließen.